Einblicke in die Vielfalt der Reinraumtechnik
Es gibt heute kaum noch Produkte, zumindest in der Zuliefer- und Komponentenbetrachtung, die nicht unter spezifischen reinen Bedingungen hergestellt oder verarbeitet werden. Die Bandbreite umfasst beispielsweise die gesamte Lebensmittelherstellung, die Kunststoff und Automobilindustrie, die Luft- und Raumfahrt, den Laborbereich inklusiv der Tierforschung, die Hochsicherheitslabore, den Krankenhaus- und Pflegebereich, den Maschinen- und Apparatebau, bis hin zur Textilindustrie inklusiv der Reinigung und Wiederaufbereitung von Textilien. Diese beispielhaft erwähnten Branchen brauchen für die Aufrechterhaltung der geforderten Reinheit, ob partikuläre Verschmutzung oder mikrobiologischer Einflüsse, auch Serviceorganisationen und Dienstleister. Für die Reinraumtechnik gibt es zwar branchenbezogene Kurse, Seminare oder Konferenzen, welche für die Kompetenzgewinnung genutzt werden können, jedoch geht es hier in erster Linie ums Lernen im Job, d.h. einen Kompetenzaufbau im Zuge von Projektumsetzungen. Zudem erfordert die Reinraumtechnik ein sehr hohes Maß an Verantwortungsbewusstsein sowie ein generelles Verständnis für jeweilige Kundenspezifika. Es handelt sich um ein hochkomplexes und differenziertes Branchensegment, welches über hundert Berufe und Fachkompetenzen miteinander vereint. Von der Anforderungsdefinition über die Planungs- und Errichtungskompetenz über den Zuliefermarkt bis hin zur Betreiberverantwortung unterscheiden sich die Aufgaben je nach Markt und Branche. Reinraumbauer und Infrastrukturunternehmen beschäftigen sich vorwiegend mit der Errichtung von Reinräumen sowie der dafür notwendigen Versorgungssysteme und nicht in erster Linie mit den Produktionsprozessen oder dem Arbeiten in reinen Räumen. Unternehmen fokusieren sich viel mehr auf die klassische Reinraumtechnik wie die Luft-Filtertechnik und die Erschaffung von keim- und partikelarmer Luft. Im Grunde wird die produktionsnotwendige Reinheit zur Hälfte durch die Technik und zur Hälfte durch das Verhalten der Menschen realisiert.
Unterschiede der Branchen
Je nach Konjunktur oder Marktentwicklung versuchen Reinraumtechnikunternehmen immer wieder ihre Marktaktivitäten auf andere Branchen auszuweiten. Ein oftmals langwieriger Weg mit vielen Hürden. Eines der Hauptprobleme dieser Ausweitung ist, dass diese teilweise gravierenden Unterschiede in den Reinraumanforderungen aufweisen. Geht es in der Mikroelektronik (fast) ausschließlich um mikroskopisch kleine Partikel, so beschäftigt sich der Pharmamarkt und der medizinische Bereich (fast) ausschließlich mit Viren, Bakterien und mikrobiellen Erregern. Die Bachwarenindustrie stört sich vorwiegend an Schimmelsporen, während die Fleisch- und Milchwarenhersteller die Gefahr in breiten biologischen Verunreinigungen bewerten. Im Bereich der Hochsicherheitslabore und Quarantänestationen beschäftigt die Betreiber die Angst, dass gefährliche Erreger freigesetzt werden könnten. In all den Anwendungsfeldern gilt es, die jeweilige Reinheit zu definieren und die entsprechenden Maßnahmen zu setzen bzw. Lösungen auszuarbeiten. So schwierig es auch sein mag, sich mit den, teilweise eklatanten Unterschieden auseinander zu setzen, so wertvoll und chancenreich können die daraus gewonnenen Erfahrungen sein. Um in der Halbleiterindustrie Investitionen von vielen Millionen Euro innerhalb weniger Monate zu realisieren, bedarf es zudem an hoher Planungs- und Entscheidungskompetenz sowie extremer Flexibilität seitens der Firmen. Änderungs- und Anpassungsbereitschaft sind dafür eine Grundvoraussetzung. Zusätzlich sind in der Pharmabranche Eigenschaften wie Ruhe, Ausdauer sowie das Verständnis über einflussnehmende Anlagen, Geräte, Raumgestaltungen und Abläufe gefragt, um durch die oft langwierigen Prüf- und Freigabeprozesse zu steuern.
Die großen Veränderungs- und Entwicklungspotentiale
Die internationale Reinraumbranche steht vor einer großen Veränderungswelle. Getrieben von der notwendigen Energieoptimierung und den klimabedingten Umweltbestrebungen, aber auch durch die drastische kontinentale Marktabhängigkeit. Diesbezüglich gibt es vier große Betätigungsfelder, welche die Reinraumtechnik der Zukunft beschäftigen wird.
- Energie
Geprägt von (großteils nichthinterfragten) Regelwerke, Normen und den sg. Stand der Technik, wurden und werden Reinräume mit z.T. extrem hohen Energieverbrauchern gebaut und betrieben.? Vorgegebene Luftwechselzahlen, Druckkaskaden und Abströmgeschwindigkeiten an den HEPA Filtern verursachen enorme Energiekosten die die Betreiber immer öfter vor große Herausforderungen stellen. Mit dem Wissen, dass 1m³ reinraumtechnisch aufbereitete Außenluft zwischen ca € 4.- bis € 6.- p/J beträgt, und in Lüftungssystemen ein Druck von > 1000 Pa vorherscht (Kompressionswärme + 1K/m³h), wäre es zeitgemäß, eine moderne Auslegung von Infrastrukturanlagen zu erstellen. Praxisbeispiele aus allen Branchen, untermauert durch umfangreiche Simulationen, Berechnungen und Tests, zeigen, dass selbst durch gravierende Senkung der Vorgabewerte es zu keinen Qualitätseinbusen kommt. Weiters werden Energiekosten gravierend gesenkt, die Instandhaltung verringert sich, und die Standzeiten der Verschleißkomponenten erhöhen sich deutlich. CFD Simulationen, wissenschaftliche Expertisen und umfangreiche Risikoanalysen geben zudem die Sicherheit, etablierte Systeme in Frage zu stellen und im Zuge dessen auch neue zu entwickeln. Die Zukunft liegt z.B. im Begriff einer „atmenden Fabrik“, welche meint, das sich Infrastruktursysteme je nach Bedarf auf die notwendigen Bedingungen automatisch einstellen bzw. selbst regulieren. Außerdm erfassen Digitalisierungs- und Messsysteme flächendeckend die Zustände und garantieren die notwendige Sicherheit.
- Flexibilität / Automatisierung
Reinräume wurden und werden in der Regel nach den Bedürfnissen und den Anforderungen zum Zeitpunkt der Entscheidung geplant und errichtet. Produktionsbedingte oder zeitgemäße Anpassungen oder Änderungen sind oft aufwendig und teuer. Speziell im pharmazeutischen Umfeld bedeuten größere Veränderung hohe Kosten und große Aufwendungen, welche es zu Vermeiden gilt. Moderne Automatisierungstechniken, unterstützt durch die gesamte Bandbreite der Digitalisierung, eröffnet neue Denkweisen und fördert zugleich die Innovationkultur. Längst bewerte Techniken aus anderen Branchen wie z.B. der Automobil- oder Zulieferindustrie können für reinraumtechnische Anwendungen adaptiert werden. Ob mobile Reinraumkonzepte wie z.B. HEPA Cart (auch GMP tauglich), Arbeitsprozesse in denen Roboter und Menschen zusammenarbeiten oder verlagerbare Fertigungsequipments. All diese Möglichkeiten gibt es bereits und sie können in allen Branchen, in denen Reinräume betrieben werden, zur Anwendung kommen. Insbesondere die Isolatortechnik (Isolator Philosophie) weist Potential auf. Die Zukunft der hochsicheren und flexiblen Raumtechnik liegt darin, Herstellungsprozesse von Umgebungseinflüssen weitestgehend zu isolieren und ganze Prozesse in geschlossenen Anlagen durchzuführen. Dabei muss jeder Prozessschritt vollumfänglich gesteuert und überwacht werden. Voraussetzung daür ist, dass Schnittstellen zwischen Reinraumtechnikern, Apparatebauern, Automatisierer, Qualitätsmanagement, Hersteller und Qualifizierer überwunden, und gesamtverantwortliche Einheiten geschaffen werden.
- Information & Wissen
Hier ist in erster Linie die gesamte Messtechnik (im weitesten Sinn) gemeint. Etwas kritisch betrachtet beschäftigt sich die klassische Reinraumtechnik vorwiegend mit Messtechniken für Temperatur, Druck, Feuchte, Geschwindigkeit und Partikel, vorwiegend in Bereichen der Infrastrukturanlagen und den normativ vorgegebenen Qualifizierungen. Betrachtet man die Datenermittlung oder die Informations- und Überwachungssysteme beispielsweise in der Automobil- und Luftartindustrie oder in den Visualisierungs- und Kommunikations-Branchen, dann muss man feststellen, dass bewährte Techniken in der Reinraumtechnik mangelhaft zur Anwendung kommen. Zudem kommt, dass gemessene und ermittelte Daten nicht immer,, oder nicht ausreichend, zu Handlungen führen – „was tu ich dann wenn ich es weiß?“. Um den Geist einer „atmenden Fabrik“ oder die „Isolatorphilosiohie“ voranzutreiben, bedarf es flächendeckende und umfassende Messtechniken. Die Einbindung von Visualisierungssystemen wie auch von prozessrelevanten Maschinen- und Produktionsdaten bilden die Grundlage für Regel- und Steuerungsmaßnahmen und für dynamische und sichere Prozesse. Ähnlich wie schon erwähnt, gilt es, dass die Reinraumtechnik sich einerseits mit allen etablierten Messtechniken beschäftigen soll und andererseits dass der Betrachtungshorizont über alle einflussnehmende Anlagen und Systeme in Betracht gezogen werden muss. Schließlich sollen die Arbeits- und Herstellungsprozesse im Fokus stehen.
- Sicherheit
Das Thema Sicherheit steht bei allen Überlegungen und Aktionen an oberster Stelle. Natürlich ist der Begriff Sicherheit für jede Branche und jeden Einzelfall gesondert zu definieren. Auch in diesem Zusammenhang ist zu bemerken, dass sich die klassische Reinraumtechnik vorwiegend mit den Sicherheiten der Infrastrukturanlagen beschäftigt. Die Produkt- und Herstellungssicherheit liegt vorrangig nicht in der Betrachtung und Verantwortung der Reinraumtechnik. Wohl wissend, dass die planenden und ausführenden Reinraumtechnik Unternehmen die Verantwortung für Produkte oder die Herstellungsprozesse nicht übernehmen können, so gilt es zunehmend, dass ein schnittstellenübergreifendes Sicherheitsdenken von allen Beteiligten gefordert bzw. gewünscht wird und für alle von großem Nutzen ist. Das Interesse und das Verständnis für Einflussfaktoren ist eine Kulturfrage. In einigen Branchen der Reinraumtechnik gehören Risiko- oder Gefahrenpotentialanalysen zum Alltag. Dieses Knowhow beinflusst die vernetzte Denkweise und trägt wesentlich zum Kompetenzaufbau bei. Die Angst, dass man alleine schon durch die Mitwirkung oder das Interesse an gesamtheitlicher Risikobetrachtung zur Verantwortung gezogen werden kann, ist latent vorhanden und berechtigt. Es ist die Aufgabe des Auftraggebers, dieses Knowhow aller Kompetenzträger zu nutzen und das Verantwortungsdenken der Beteiligten zu fördern, ohne dabei die Verantwortung auf alle abzuwälzen. Grundsätzlich gibt es die Erkenntniss, dass der Bereich „Sicherheit“ (im weitesten Sinn) ein großes finazielles und technisches Entwicklungspotential aufweist. „Vertrauen“ und „Zutrauen“ sind immer öfter eine Entscheidungsgrundlage für Auftragsvergaben.